Interview mit dem RiskLab-Forscher Wolfgang Breymann (erschienen am 25. Sep. 2001 in ETH Life)

Aus dem Schock lernen

Die Terrorattacke auf die USA hat auch Börsen und Finanzmärkte massiv erschüttert. Der Dow-Jones-Index der wichtigsten US-Aktien hat innert Tagen 15 Prozent seines Werts eingebüsst. Kann man sich auf solche Kursstürze vorbereiten, und welche Schlüsse lassen sich aus derartigen Schockereignissen ziehen? Ein Gespräch mit Wolfgang Breymann, der am Risklab der ETH Volatilitäten an Finanzmärkten untersucht.

Interview: Norbert Staub

Wolfgang Breymann
Der Angriff auf das World Trade Center könnte die Dezentralisierung der Märkte beschleunigen, meint PD Dr. Wolfgang Breymann, Senior Researcher am RiskLab der ETH.
Herr Breymann, die verheerenden Terroranschläge in New York haben auch die Börsen und Finanzmärkte getroffen. So hat allein der Dow-Jones-Index innert weniger Tage 15 Prozent eingebüsst. Haben Sie das erwartet?

Wolfgang Breymann: Ja, ich habe damit gerechnet, dass die Märkte stark reagieren. Es sei der stärkste Rückgang innerhalb einer Woche seit 1933 gewesen, war in der «Financial Times» zu lesen. Gleichzeitig sind gestern Montag die Kurse wieder stark gestiegen — ein Anzeichen für hohe Volatilität. Das Ereignis war ein Schock, mit dem niemand rechnen konnte. Die Börsen waren ja schon vor dem Anschlag in einer schwierigen Situation. In den USA gab es Befürchtungen, dass eine Rezession einsetzt. Das Attentat hat die Börse sozusagen «auf dem linken Fuss» erwischt.

Können Sie Beispiele dafür nennen?

Breymann: Es gibt einige Branchen, die direkt getroffen wurden: die Versicherungs- und Rückversicherungsbranche etwa, die Luftfahrt- und die Flugzeugindustrie — denken Sie an die Rettungsaktion für die Swissair — sowie die Tourismusbranche. Es ist natürlich klar, dass diese in der aktuellen Börsenentwicklung schlecht abschneiden. Aber das sind ökonomische Fragen. Wichtige Auswirkungen gab es auch direkt auf die Finanzmärkte.

Welche?

Breymann: Einige grosse US-Investoren haben nach den Terroranschlägen grosse Positionen verkauft. Es gab Vermutungen, dass diese Investoren dazu gezwungen waren, weil sie mit diesem Geld andere Positionen im Markt stützen mussten. Ohne den Teufel an die Wand zu malen: Das ist ein Zeichen dafür, dass Probleme aufgetreten sind. Der Anschlag hat die Märkte ja ganz direkt in ihrer Infrastruktur getroffen. Wenn Firmen, die für das Funktionieren eines Marktes eine wichtige Rolle spielen, plötzlich ausgelöscht werden, ist Verunsicherung die Folge. Man weiss plötzlich nicht mehr, wer wem was verkauft hat; die Rekonstruktion der Transaktionen ist enorm aufwendig. Die Brokerfirma Fitzgerald Cantor zum Beispiel, die im World Trade Center untergebracht war, stellte gut ein Drittel der gesamten Liquidität im US-Anleihenmarkt zur Verfügung. Als Folge davon schrumpfte das Handelsvolumen enorm.

Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit Volatilitäten in Finanzmärkten. Was ist darunter zu verstehen?

Breymann: Volatilitäten sind ein Mass für die Stärke der zu erwartenden Kursschwankungen. In meiner Forschung versuche ich aufgrund ganz kurzfristiger Daten die Volatilitäten auf längere Sicht vorherzusagen.

Was kann man mit Volatilitätsvoraussagen anfangen?

Breymann: Sie sind zum Beispiel nützlich für Risikomodelle — zur Skizzierung von zu erwartenden Risiken. Gleichzeitig sind Volatilitäten einer der wichtigen Parameter zur Berechnung der Preise von Optionen, einem wichtigen derivativen Finanzinstrument.

Beeinflusst ein solches Ereignis wie in den USA nun Ihre Forschung?

Breymann: Dieses Ereignis ist unfassbar. Gleichzeitig gibt der Schock uns die Chance, Neues zu lernen. Es wird interessant sein festzustellen, wie dieser Schock die Volatilitäten beeinflusst. Sicher ist: Externe Einflüsse wie diese bleiben nicht vorhersagbar. Ein Aspekt der hier ins Zentrum rückt, ist die Volatilitätsforschung zuhanden der Versicherungen. Das wäre sicher auch eine Aufgabe, die am RiskLab der ETH bearbeitet werden kann. New York könnte ein Testfall sein für eine Frage wie: Wie gut sind bestehende Vorhersagemodelle in Bezug auf die Entwicklung nach dem Ereignis? Zum Vergleich könnte man Ereignisse wie den irakischen Einmarsch in Kuwait vor zehn Jahren heranziehen; dieser war auch überhaupt nicht vorhersehbar, und die Märkte haben damals stark reagiert.

Lässt sich, was wir in diesen Tagen an den Märkten erleben, in ein typisches Schwankungsbild integrieren?

Breymann: Die zu erwartende Schwankung ist jetzt natürlich höher als zu «normalen» Zeiten. Volatilität ist per se nichts Negatives: Die Finanzmärkte können sehr volatil sein und sich trotzdem gleichmässig — «seitwärts» — entwickeln. Für Händler besteht der Vorteil der Volatilität darin, dass grosse Schwankungen in den Märkten ihnen Gewinnmöglichkeiten eröffnen, kleine nicht. Aber klar ist auch: eine erhöhte Volatilität birgt mehr Risiken. Die New Yorker Katastrophe beeinflusst die kurzfristige Entwicklung enorm; langfristig werden sich die Märkte wieder fangen.

Gibt es Unterschiede im Mass, wie die Märkte vom Terrorangriff getroffen wurden?

Breymann: Ja. Wir müssen verschiedene Märkte wie Aktien-, Devisen- und Anleihenmärkte unterscheiden. Gerade der Handel mit Anleihen (US-amerikanisch: Bonds) ist durch die Zerstörung der erwähnten, als Vermittler fungierenden, Firma Fitzgerald Cantor stärker in Mitleidenschaft gezogen worden als der Aktienmarkt. Vielleicht muss man im Nachhinein sagen, es wäre klüger gewesen, wenn die Infrastruktur nicht an einem Ort, in einer Firma sogar, konzentriert gewesen wäre. Andererseits hatte die Spezialisierung einer Fitzgerald Cantor den Vorteil, dass der Service effizient und günstig abgewickelt werden konnte. Anders als beim LTCM-Crash vor drei Jahren geht es hier nicht um eine Störung, die gewissermassen vom Markt selbst erzeugt wurde (etwa eine Liquiditätskrise), sondern um eine Störung der Infrastruktur des Marktes — die allerdings erhebliche Probleme erzeugen kann. Die US-Zentralbank ist den Investoren ja auch mit einer starken Verbilligung der Kredite zur Seite gesprungen, um Liquiditätsengpässe zu verhindern. Und das ist gelungen.

Sehen Sie Möglichkeiten, eine Art «Frühwarnsystem» einzurichten, um die Märkte gegen ein Ereignis wie dieses zu schützen?

Breymann: Das ist schwierig, denn je verflochtener die Märkte sind, und das ist eine globale Tatsache, desto grösser sind die Möglichkeiten der Ausbreitung einer Krise. Für eine künftige Einrichtung eines solchen Instruments würde die Volatilitätsforschung allerdings wichtige Daten liefern können. Sicher ist: Das Bewusstsein, dass diese hohe physische Konzentration der Märkte an einem Ort wie an Wall Street nicht nötig oder sogar gefährlich ist, wird jetzt zunehmen. Der Dezentralisierungs-Prozess hat aber bereits mit der NASDAQ eingesetzt — angetrieben von der Entwicklung der Kommunikationstechnologie.


PD Dr. Wolfgang Breymann ist ausgebildeter theoretischer Physiker und als Senior Researcher für ein halbjähriges Sabbatical am RiskLab der ETH. Zuvor arbeitete er bei Olsen and Associates, einer auf Finanzmarktdienstleistungen spezialisierten Firma in Zürich. Sein Interesse gilt der Finanzmarktdynamik und dem Risikomanagement. Wolfgang Breymann doziert bei den Wirtschaftswissenschaften an der Uni Basel über Finanzmärkte.

Das 1994 gegründete und an der ETH domizilierte RiskLab ist ein inter-universitäres Forschungsinstitut, das angewandte Forschung im Bereich Riskomanagement für die Finanz- und Versicherungsbranche betreibt. Betreiber des RiskLab sind neben der ETH die Credit Suisse Group, die Swiss Re und die UBS. Mit dem RiskLab informell verbunden sind zudem einzelne Mitglieder des Departments Mathematik der ETH Zürich und des Schweizer Bankeninstituts an der Uni Zürich.

ETH Life, 25. September 2001 (Links set by RiskLab)


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