Versicherungen und Finanzen

Möglichkeiten und Grenzen mathematischer Risikokontrolle

Autoren: Rüdiger Frey und Uwe Schmock

Im letzten Jahrzehnt haben modernste mathematische Methoden vermehrt im Banken- und Versicherungsbereich Einzug gehalten. In einem Berufsfeld, das früher hauptsächlich eine Domäne von Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern war, tummeln sich nun auch Mathematiker, Physiker und andere quantitativ-mathematisch ausgebildete Spezialisten. Haupteinsatzgebiet dieser «Quants» (quantitative analysts) ist die Messung und Kontrolle der Finanzrisiken, denen sich Banken und andere Finanzinstitute gegenübersehen.

Die Schätzung reiner Versicherungsrisiken hat im Gegensatz zum Bankenbereich längere Tradition und gilt als Domäne der Aktuare (Versicherungsmathematiker). Weil die Bank- und Versicherungsbranche zusammenwächst, wie dies auch institutionell durch Fusionen zu Allfinanzinstituten zum Ausdruck kommt, sind Finanz- und Versicherungsrisiken heute gemeinsam zu betrachten. Auf Produkteebene äussert sich dieser Trend zum Beispiel durch aktienfondsgebundene Lebensversicherungen, Kreditversicherungen sowie hochverzinsliche Anleihen zur Deckung eventueller Erdbeben- oder sonstiger Katastrophenschäden (Securitization).

Zur Bewältigung ihrer Aufgaben stützen sich die Risikokontrolleure auf Methoden aus vielen Bereichen der Mathematik und Informatik. Das Arsenal der finanzmathematischen Waffen umfasst neben modernsten Techniken aus der Stochastik (Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik) zur Analyse von Finanzdaten auch Techniken aus der Theorie und Numerik partieller Differentialgleichungen, Simulationsverfahren und sogar Methoden aus der reinen Mathematik. Ausserdem spielen in der computerisierten Finanzwelt natürlich auch Informatikaspekte eine grosse Rolle.

Erhöhtes Risiko

Ausgelöst wurde die Entwicklung hin zum quantitativen Risikomanagement durch eine Reihe von Faktoren, die das Risiko grosser Verluste für Banken und andere Akteure an den Finanzmärkten stark erhöht haben. Mit dem Wegfall des Bretton-Wood-Systems fester Wechselkurse anfang der 70er-Jahre ging eine starke Zunahme der Kursschwankungen an den Finanzmärkten einher; Börsenprofis sprechen in diesem Zusammenhang von einer stark gestiegenen Volatilität. Parallel dazu sind – begünstigt durch den Abbau von Handelshemmnissen und durch technologische Entwicklungen – die Umsätze an den Finanzmärkten stark gewachsen. Beispielsweise betrug der Tagesumsatz an der New Yorker Aktienbörse 1970 rund 3,5 Mio. Aktien, 1990 bereits 40 Mio., und auf anderen Märkten verlief der Umsatzanstieg noch rasanter. Gleichzeitig haben eine Klasse neuer Finanzprodukte, die so genannten Derivate, einen grossen Aufschwung erlebt. Bei Derivaten handelt es sich grob gesprochen um eine Wette auf den Kursverlauf von Basiswerten wie etwa Anleihen, Aktien oder Rohstoffen; die wichtigsten Derivate sind Terminverträge, Swaps und Optionen. Derivate ermöglichen es den Akteuren an den Finanzmärkten, sich ohne grossen Aufwand gegen Schwankungen im Preis der Basiswertpapiere abzusichern (Risikotransfer); und gleichzeitig eignen sie sich natürlich auch zu Spekulationszwecken. Die Bewertung derivativer Finanzinstrumente beruht auf einer komplexen mathematischen Theorie, deren Begründer, die Professoren Robert C. Merton und Myron S. Scholes, 1997 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurden (der Mitbegründer Fisher Black war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben). Derivate sind ideal geeignet als Instrument zur Umverteilung von Finanzrisiken und daher ein unverzichtbarer Bestandteil der modernen Finanzmärkte. Wie eine Reihe spektakulärer Verluste Anfang der 90er-Jahre gezeigt hat, ist der Risikotransfer mit Derivaten gleichwohl selbst nicht ohne Risiko.

Moderne Risikomanagementsysteme

Als Antwort auf das gestiegene Risikopotenzial an den Finanzmärkten haben Banken und auch Versicherungen unter dem Druck von Aktionären, Öffentlichkeit, Politik und Aufsichtsorganen mit der Entwicklung und Implementation moderner, quantitativer Risikomanagementsysteme begonnen. Herzstück eines solchen Systems ist die Ermittlung der Gewinn- und Verlustverteilung. Hier versucht man, die Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten von Gewinnen und Verlusten verschiedener Grössen über einen vorgegebenen Zeitraum (je nach Anwendung ein Tag, zehn Tage oder auch ein Jahr) zu ermitteln. Dazu muss die Verteilung der Wertänderung von Kernrisikofaktoren (etwa Aktienindizes und Zinskurven) geschätzt und anschliessend die Wertänderung des Portefeuilles auf die Wertänderung dieser Risikofaktoren zurückgeführt werden. In einem zweiten Schritt ermittelt man aus der Gewinn- und Verlustverteilung Risikokennziffern. Bekanntestes, aber gerade unter Zürcher Forschern nicht unumstrittenes Beispiel ist der so genannte Value-at-Risk (VaR). Solche Risikokennziffern bestimmen massgeblich, über wie viel Eigenkapital ein Finanzinstitut als Sicherheit gegen Verluste verfügen muss, um ein bestimmtes risikobehaftetes Portefeuille halten zu können. Derartige Vorschriften zur Eigenkapitalunterlegung sollen die Stabilität des gesamten Finanzsystems gewährleisten. Die wichtigsten Risikoarten, die in modernen quantitativen Risikomanagementsystemen erfasst werden, sind Marktrisiken (Verluste durch Preisänderung der Wertschriften im Portefeuille) und Kreditrisiken (Kreditverluste oder sonstige ausfallende Leistungen einer Gegenpartei).

Die Entwicklung und Implementation quantitativer Risikomanagementsysteme stellt sicher eine grosse wissenschaftliche und vor allem auch organisatorische Leistung dar; sie ist auch ein wichtiger Schritt hin zu mehr Stabilität auf den Finanzmärkten. Die Modellierung von Finanzrisiken ist allerdings eine sehr komplexe Aufgabe, sodass auch die heute implementierten Systeme in intensiver Zusammenarbeit von Banken, Regulatoren und Forschern noch weiter verbessert werden können.

Wertänderung der Risikofaktoren und Marktliquidität

Auf der mathematisch-statistischen Seite wirft die Schätzung der Wertänderung von Risikofaktoren noch viele spannende Fragen auf, bei deren Lösung Forscher an ETH und Universität Zürich und insbesondere die Mitarbeiter von RiskLab an vorderster Front mitarbeiten. Probleme bereitet beispielsweise die Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit besonders grosser Verluste. Man weiss aus Erfahrung, dass derartige Verluste häufiger eintreten als von Standardmodellen, die auf der Normalverteilung basieren, vorhergesagt. Zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit derartiger Ereignisse bedienen sich die RiskLab-Forscher beispielsweise Methoden der Extremwerttheorie, wie sie bereits erfolgreich zur Bestimmung von Hochwasserständen beim Deichbau eingesetzt wurden. Ein weiteres Kerngebiet der Zürcher Risikomanagement-Forschung ist die Modellierung und das Schätzen von Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Risikofaktoren. Da das Portefeuille einer Bank oder Versicherung dem Einfluss vieler verschiedener Risikofaktoren gleichzeitig ausgesetzt ist, bereitet dieser Problemkreis den Praktikern im Risikomanagement grosses Kopfzerbrechen. Als Beispiel für derartige Abhängigkeiten seien hier die Beziehung zwischen Markt- und Kreditrisiko genannt. In Zeiten schlechter wirtschaftlicher Entwicklung steigt die Anzahl der Konkurse und somit das Kreditrisiko von Banken; gleichzeitig hat die wirtschaftliche Entwicklung natürlich auch Auswirkungen auf den Wert des Aktienportefeuilles einer Bank.

Ein weiteres spannendes Problemfeld sind Fragen der Marktliquidität. Die heutigen Risikomanagementsysteme basieren vielfach auf der Annahme liquider Märkte, das heisst, man geht zumindest implizit davon aus, dass Banken relativ grosse Posten risikobehafteter Wertschriften in kurzer Zeit auf den Markt bringen können, ohne dadurch den Marktpreis dieser Wertschriften stark zu beeinflussen. Wie die Erfahrung gelehrt hat, ist dies gerade in Zeiten starker Turbulenzen an den Finanzmärkten häufig nicht möglich. Banken sind sich dieses Problems natürlich bewusst und haben im Lauf der Zeit pragmatische Vorgehensweisen entwickelt, um sich gegen Verluste durch Marktilliquidität zu schützen. Gleichwohl ist eine systematische Analyse von Ursachen und Auswirkungen von Marktilliquiditäten von grosser Bedeutung, insbesondere für die Optionsbewertung. Eine exakte mathematische Modellierung ist natürlich sehr schwierig, da vor allem auch ökonomische und psychologische Elemente eine Rolle für die Liquidität auf wichtigen Märkten spielen. Trotzdem wird in RiskLab versucht, die Auswirkungen fehlender Marktliquidität für das Funktionieren von Risikomanagementsystemen zumindest näherungsweise zu erfassen.

RiskLab-Projekt: Modellierung langfristiger Finanzrisiken

Das in der Schweiz von institutionellen Anlegern verwaltete Vermögen ist beträchtlich und hat die Billionen-Franken-Grenze weit überschritten. 1999 betrug das allein von den Banken verwaltete Vermögen 3,4 Billionen Franken. Für Vermögensverwalter und ihre Kunden ist es wichtig, zuverlässige, mit Wahrscheinlichkeiten gewichtete Prognosen für die (möglicherweise negative) Wertentwicklung ihrer Fonds oder Portefeuilles zu haben. Diese können international diversifiziert sein und aus Tausenden von Aktien, Anleihen, Derivaten und sonstigen Finanzinstrumenten bestehen. Die Entwicklung von praktikablen, mathematisch konsistenten Methoden zum Prognostizieren der langfristigen Wertentwicklung und zum Abschätzen der finanziellen Risiken dieser Portefeuilles ist folglich eine wichtige Aufgabe. Existierende Modellierungsansätze wie zum Beispiel «RiskMetrics» erlauben relativ gute Schätzungen von kurzfristigen Marktrisiken während der nächsten ein bis zwei Wochen – hierfür wurden sie entwickelt. Diese Modelle haben jedoch einige schwer wiegende Mängel, wenn sie auf längere zukünftige Zeiträume von typischerweise einem Jahr angewendet werden, wie es für strategische Investitionen institutioneller Anleger nötig ist. So kann beispielsweise bei Modellen für kurze Zeitspannen davon ausgegangen werden, dass sich die Zusammensetzung des betrachteten Portefeuilles nicht verändert. Für langfristige Prognosen ist diese Annahme jedoch aus mehreren Gründen unrealistisch: Anleihen werden zurückgezahlt, Optionen verfallen, und Portefeuilles werden aufgrund der Marktentwicklung unter Beachtung der Anlagerichtlinien umgeschichtet.

Das Ziel dieses RiskLab-Projekts ist die Entwicklung eines theoretisch gut verstandenen und empirisch begründeten Konzeptes zum Schätzen der langfristigen finanziellen Risiken der strategisch ausgerichteten Portefeuilles.

Da sich keine der in der Literatur beschriebenen Methoden als augenscheinlich besser erweist als alle übrigen, ist es notwendig, dass geeignete Modellvorschläge für verschiedene Anwendungsbereiche genauer untersucht werden. Um beurteilen zu können, wie gut sich welche Modelle zum Prognostizieren der langfristigen Wertentwicklung eignen, gehen die RiskLab-Forscher wie folgt vor: Zuerst betrachten sie die strukturellen Komponenten von Anlageportefeuilles wie Aktienkurse und Wechselkurse einzeln und ermitteln mit Hilfe historischer Daten das jeweils beste Modell und dessen beste Kalibrierung. Anschliessend modellieren sie das gesamte Portefeuille, indem sie die einzelnen Komponenten zusammenfügen und dabei möglichst Abhängigkeitsstrukturen berücksichtigen. Hierbei wollen sie Synergien mit einem weiteren RiskLab-Forschungsgebiet nutzen, bei dem die Modellierung von Abhängigkeiten im allgemeinen Rahmen näher untersucht wird. Ein wesentlicher Teil des Projektes besteht darin, den Einfluss der Anlagestrategien auf die Zusammensetzung der Portefeuilles – und damit auch auf die Wertentwicklung und das finanzielle Risiko – geeignet zu prognostizieren.

Ökonomische Aspekte

RiskLab beschäftigt sich vor allem mit mathematischen Aspekten des finanziellen Risikomanagements. Natürlich wirft die Verbesserung von Risikomanagementsystemen auch viele wichtige ökonomische Fragen auf. Als Beispiele seien hier die Fragen der Kapitalallokation, der Leistungsmessung und der Bonussysteme erwähnt. Es ist bekannt, dass Händler, Versicherungsagenten und Manager durch ungeeignete Bonussysteme dazu verleitet werden können, aus Sicht des Finanzinstituts zu hohe Risiken einzugehen. Auch bei der Untersuchung von Ursachen und Folgen fehlender Marktliquidität oder bei der Frage, wie Finanz- und Versicherungsmärkte organisiert sein sollten, müssen ökonomische Überlegungen im Zentrum stehen. Deshalb werden Wissenschaftler aus RiskLab, der Finanzindustrie, dem Departement Mathematik der ETH, der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und des Schweizerischen Instituts für Banken und Finanzen an der Universität St. Gallen in Zukunft bei der Erforschung von Finanz- und Versicherungsrisiken noch stärker zusammenarbeiten.

RiskLab: Finanzkompetenzzentrum an der ETH Zürich

RiskLab ist als universitätsübergreifendes Forschungsinstitut konzipiert, das sich auf vorwettbewerbliche, angewandte Forschung auf dem Gebiet des integrierten Risikomanagements im Finanz- und Versicherungsbereich konzentriert. Das 1994 gegründete Institut wird zurzeit finanziell getragen von der ETH Zürich, den beiden Schweizer Grossbanken (Credit Suisse Group und UBS AG) sowie der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft. Im RiskLab arbeitet ein international zusammengesetztes Team von jungen, erstklassigen, zum Teil promovierten Akademikern. Die angewandte wissenschaftliche Forschung im Bereich der Finanz- und Versicherungsmathematik, insbesondere des Risikomanagements, wird grösstenteils in Projektform in enger Zusammenarbeit mit den Industriepartnern aus dem Finanzsektor und weiteren Forschern an wissenschaftlichen Hochschulen (Universität Zürich, Universität Lausanne, Hochschule St. Gallen, Institut National de Recherche en Informatique et en Automatique in Sophia Antipolis, Frankreich) durchgeführt. Hierbei werden akademische Methoden auf praxisrelevate Fragestellungen angewandt, die sich aus der engen Kooperation mit den Finanzindustriepartnern ergeben.

Relative tägliche Wertänderung des DAX und VAR-Prognosen

DAX

Die Abbildung zeigt die täglicher relativen Wertänderungen des Deutschen Aktienindexes (DAX), wobei Verluste positives Vorzeichen haben. Die untere Linie zeigt die jeweils für den nächsten Tag prognostizierte Schranke (Value at Risk), die der Verlust mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% nicht überschreiten sollte; die obere Linie ist die entsprechende 99%-Schranke. Diese Schranken werden mit einer an der ETH Zürich entwickelten Methode berechnet, in die Zeitreihenmodellierung und Extremwerttheorie wesentlich eingehen. Überschreitungen der Schranken (was an 5% bzw. 1% aller Handelstage passieren sollte) sind durch Kreise bzw. Dreiecke markiert; dies dient zur Verifikation der Methode (Backtesting). Aktuelle Vorhersagen dieser Schranken für den DAX, den Dow Jones, den S&P-Index sowie historische Volatilitätsdaten und statistische Auswertungen durch das «Riskometer» sind online unter http://www.math.ethz.ch/~mcneil/risksum.html verfügbar.

Funktion / Institut:

Dr. Rüdiger Frey war Assistenzprofessor am Institut für Schweizerisches Bankwesen, Universität Zürich vom März 1999 bis zum Februar 2002.
Dr. Uwe Schmock amtete als Forschungsdirektor des RiskLabs am Departement Mathematik der ETH Zürich vom Oktober 1999 bis zum November 2001.

Informationen:

Finanz- und Versicherungsmathematik, ETH Zürich: http://www.math.ethz.ch/finance/
RiskLab: http://www.risklab.ch/
Institut für Schweizerisches Bankwesen: http://www.isb.unizh.ch/

Bulletin, Magazin der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, No. 279, November 2000,
und Unimagazin, Die Zeitschrift der Universität Zürich, No. 3, October 2000, pages 56–59.


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